Es gibt keinen Vater und keine Mutter der Familientherapie. Die Bewegung erwuchs in den 50iger Jahren in den USA. Mehr oder weniger gleichzeitig entstand diese neue Therapieform an verschiedenen Orten, ohne dass die Begründer und Begründerinnen von einander wussten oder einander beeinflussten.

Auslöser für die neuen Behandlungsinitiativen der ersten FamilientherapeutInnen war fast durchweg ein Erleben der Ohnmacht in der Behandlung psychotischer Patienten, insbesondere psychotischer Jugendlicher, angesichts hoher Zahlen von Rückfällen nach anfänglichen Therapieerfolgen. Immer häufiger fiel auf, in wie hohem Maße die Familienmitglieder in die Problematik des erkrankten Familienmitgliedes eingebunden waren. Häufig gewann man beispielsweise den Eindruck, dass die Familienangehörigen die PatientInnen gerade dann aus der Therapie herausnahmen, wenn endlich erste Fortschritte festzustellen waren.

So ergab sich, dass die TherapeutInnen ihre Aufmerksamkeit zunehmend den Familien ihrer PatientInnen zuwandten und – in Anwendung des damals selbstverständlichen, heute aber als überholt geltenden Modells gradlinigen Ursache-Wirkungs-Denkens – die Ursache und damit die Schuld für das kranke Verhalten ihrer PatientInnen in dem gestörten Verhalten der Familienmitglieder fanden. Zunächst führte dies aber lediglich zu einer Verschiebung der Ursache und damit der Schuld vom "kranken" Individuum auf die "krankmachende" Familie.

Die ersten Anstöße zu einer neuen Sichtweise und entscheidenden Weiterentwicklung gingen dann von der Gruppe um Gregory Bateson in Palo Alto aus. Bateson und Kollegen (Haley, Weakland und Frey) begannen, das schizophrene Verhalten der Patientin oder des Patienten im Zusammenhang mit dem Verhalten der übrigen Mitglieder als sinnhaft und in sich schlüssig zu erklären. Sie entwickelten u. a. die Double-Bind-Hypothese (die Beziehungsfalle nach Stierlin) und entwickelten Kategorien, um die Eigenschaften von Beziehungen, dynamische Prozesse und Interdependenzen innerhalb von Systemen bzw. in der System-Umwelt-Beziehung zu erfassen. Angeregt durch ähnliche gedankliche Entwicklungen in anderen Wissenschaftsbereichen, beispielsweise der Kybernetik, gelangten sie zu einer radikalen Absage an gradlinig kausale Modelle und beobachteten zirkuläre Rückkopplungsprozesse innerhalb von Familien bzw. anderen Systemen. Als erste Techniken wurden beispielsweise Symptomverschreibungen oder die Verstärkung des Verhaltens eines anderen Familienmitgliedes entwickelt, um das "Familienspiel" aus dem Gleichgewicht zu bringen und neue Organisationsprozesse anzuregen.

Immer mehr setzte sich die Überzeugung durch, dass es einfacher und erfolgreicher ist, ein Interaktionssystem zu therapieren statt eines Individuums. Denn es ist relativ einfach möglich, die Interaktionsregeln eines Systems direkt zu beobachten, während die intrapsychischen Vorgänge eines Individuums, seine Gedanken und Gefühle lediglich mit Hilfe sehr unsicherer hypothetischer Konstrukte zu erschließen sind. Es gelingt dadurch eine Reduktion der Komplexität, was die therapeutische Intervention erleichtert und es möglich macht, sprunghafte Strukturveränderungen bei dynamischen Systemen anzuregen, die zu überraschenden therapeutischen Erfolgen führen können.

Der systemische Ansatz hat damit eine grundsätzliche Änderung der Erklärungsmodelle für individuelles Verhalten bewirkt. Dieses bestimmt sich danach nicht unabhängig von den Bedingungen der Umwelt aufgrund intrapsychischer Abläufe und Motive, sondern ist nur durch die rekursive Wechselbeziehung mit dem Verhalten der Interaktionspartner erklärbar. Eine solche systemische Sicht zwingt dazu, das Beschuldigen – beispielsweise auch das des “identifizierten Patienten“ oder seiner Familie – aufzugeben und die Idee zu verlassen, dass Verhaltensschwierigkeiten durch Defekte im individuellen psychischen System oder im Interaktionssystem, beispielsweise der Familie, bedingt seien.

Die TherapeutIn ist damit nicht mehr ExpertIn für gesunde Strukturen und damit diejenige, der Veränderungen im Einzelnen oder in der Familie gezielt zu bewirken hat und somit für den Prozess der Therapie die alleinige Verantwortung trägt. Die TherapeutIn versucht vielmehr, durch konsequente Einführung einer Außenperspektive den Rahmen der wechselseitigen Selbst- und Fremdinterpretationen und damit die Interaktionsregeln der Familie zu verändern. Dies tut sie beispielsweise durch besondere Fragetechniken, beispielsweise das zirkuläre Fragen, das von den Mailänder ForscherInnen um Mara Selvini Pallazoli angeregt und von der Heidelberg Gruppe um Helm Stierlin wie auch anderen Forschern weiterentwickelt wurde. Auch kann die TherapeutIn versuchen, bestimmte “Spielzüge“ des Systems nicht mit zu vollziehen, um auf diese Weise neue Organisationsprozesse anzuregen.

So kann die TherapeutIn Veränderungen anregen, indem sie die von ihr als dysfunktional gesehenen Muster oder als einschränkend angesehenen Ideen stört und Ideen und Perspektiven einführt, die neue Entwicklungen in Gang setzen und den Spielraum der Freiheit erweitern. Sie hilft dem System, sich in neuer Weise zu organisieren. Auf diese Weise lassen sich häufig durch vergleichsweise geringe Anstöße schnelle und diskontinuierliche Veränderungen bewirken.

Ein systemisches Verständnis von Therapie führt zu einigen grundsätzlichen Änderungen in der Haltung der TherapeutIn: Sie ist nicht mehr die Fachfrau, die bestimmt Probleme diagnostiziert und löst, die die Zusammenhänge bereits kennt und lediglich noch auf den konkreten Fall in angemessener Weise anzuwenden hat. Die systemische TherapeutIn ist vielmehr eine FragerIn und eine SucherIn, die voller Interesse für die Wirklichkeit ihrer KlientIn ist. Die herausragende Eigenschaft der TherapeutIn ist die Neugierde und das Interesse für dieses einmalige System und seine Organisationsformen. Gleichzeitig zeigt die TherapeutIn Respekt vor den Annahmen und Überzeugungen jedes Mitgliedes des Problemsystems und vor den Mustern des Problemsystems als Ganzem. Ihre Aufgabe ist es, die Blockade in der Entwicklungsdynamik aufzulösen und dem System die Möglichkeit zu eröffnen, sich selbst in einer Form neu zu strukturieren, die ein Leben mit deutlich geringerem oder aufgehobenem, individuellem oder kollektivem Leid möglich macht.

(Wilhelm Rotthaus, DGSF)